Refika Sariönder,
Einleitung
Seit dem Ende der 80er Jahre befinden sich die Aleviten in einem Prozeß der politischen Öffentlichkeit. Mit der Veröffentlichung von Büchern und Zeitschriften und mit der Gründung alevitischer Vereine und Stiftungen, die Veranstaltungen organisieren, ist das Alevitum auch den Nicht-Aleviten zugänglicher geworden, welches bis zu dieser Zeit eine Geheimlehre blieb. Somit haben Aleviten angefangen, sich zu ihrer Identität auch öffentlich zu bekennen, die sie aufgrund des politischen und sozialen Drucks immer verheimlichen mußten.
Die Entwicklungen im Alevitum sind nicht nur aus den lokalen Gesichtspunkten, sondern auch aus der Religionsfrage und der neuen Rolle des Islams zu verstehen. Dabei müssen auf die allgemeinen Bedingungen des kulturellen Wandels im Zeichen der Globalisierung und der Re-Islamisierung besonders fokussiert werden. Auf der globalen Ebene gewinnt die Religion immer mehr an Bedeutung und tritt immer mehr aus der marginalen und privaten Sphäre heraus, was ihr die Theorien der Modernität und der Säkularisierung zugeschrieben hatten. Nicht nur die Religion wird politisiert, auch die Politik bekommt verstärkt einen religiösen Akzent. Im Folgenden wird versucht, den Wandel im Alevitum in diesen Prozessen herauszuarbeiten.
Globalisierung
In den letzten Jahren sind wir Zeugen eines immer mehr sich verankernden Prozesses der Globalisierung geworden. Dieser Prozeß wirkt sich auf alle Gesellschaften weltweit aus. Die globale Welt, oder mit Tiryakian's Worten, die "neue Welt" der 90er Jahre, ist durch Zusammenbrüche markiert, bei denen sich traditionelle Grenzen und Aufsplitterungen auflösen. Die Auflösung der Polarisation 'freie Welt/kommunistische Welt', verbunden mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Basis für die persönliche Identität, Orientierung und Entwicklung, sind Indizien für die Zusammenbrüche sowohl in der Makro- als auch in der Mikroebene. Tiryakian bemerkt, daß sich die Wahlmöglichkeiten und die Alternativen für Individuen vermehren und diese für sich selbst wählen können und müssen, was sie werden wollen (Tiryakian 1994: 138). Wir erleben eine Periode von Unregelmäßigkeiten, und dafür reichen die alten Paradigmen nicht mehr aus:
"The period of transition and flux we are in, alternating between order and disorder, between features of globalisation and local reactions to globalisation, between differentiation and de-differentiation, is witness to a set of dialectical relationships that do not culminate in any linear direction; global or universal characterisations, causal or evolutionist analysis seem inadequate to make sense of localised behaviour....we must accept the fundamental ambiguity of both order and disorder coexisting, in nature and in societal systems. Hence the need for multiple paradigms with which to explore processes of continuity and discontinuity." (Tiryakian 1994: 143)
Die Globalisierungstheorie unterscheidet sich von den länger etablierten weltweiten Perspektiven durch den Aspekt, daß sie als zentrale Einheit für die gesellschaftliche Analyse den gesamten Globus nimmt und ihn als ein einziges gesellschaftliches System betrachtet (Beyer 1994: 14). Robertson, einer der wichtigsten Theoretiker der Globalisierungsthese, bemerkt, daß wir, um die Welt als Ganzes zu untersuchen keine neue Disziplin brauchen. Jedoch sollte die Gesellschaftstheorie ihren Fokus ändern und sich ausdehnen, damit diese Welt zu erforschen sein würde (Robertson 1990: 19).
Die Religion spielt eine signifikante Rolle im Globalisierungsprozeß. Das globale System läßt die überlieferten kulturellen und persönlichen Identitäten zerfallen, fördert jedoch die Entwicklung und die Revitalisierung von partikularen Identitäten als einen Weg für die Schaffung der Kontrolle über die Macht des Systems. Die Religion kann als eine negative Reaktion gegen die Globalisierung hervortreten. Das heißt nicht, daß die Religion eine regressive Kraft ist und die globale Realität negiert werden soll, sondern daß versucht wird, sie zu formen. Dadurch kann die Religion die Globalisierung fördern, indem sie sich gegen ihre Folgen wendet. So wird die Revitalisierung der Religion ein Mittel für die Durchsetzung einer partikularen Identität, die zur primären Methode bei der Konkurrenz um Macht und Einfluß im globalen System wird (Beyer 1994: 3-4).
Transformation des Religiösen
Wie in der Globalisierungstheorie, so ist die Diskussion über den Paradigmawechsel auch in der Religionssoziologie zu finden. Am Beispiel der amerikanischen Religionen behaupten Greil und Robbins, daß die neue Form der Transformation die alten Analysekategorien obsolet erscheinen lassen (Greil and Robbins 1994: 18). In diesem Zusammenhang schlagen Demerath und Schmitt vor, anstatt die Religion für ein soziologisch separates Feld zu halten, sie als eine Dimension auf jeder gesellschaftlichen Ebene zu betrachten (Demerath and Schmitt 1994: 28).
"the very notion of religion as an institutionally distinct sociocultural sphere is a product of modernity.....it may well be that an essential characteristic of religion in postmodern society is a return to the indistinct boundary between sacred and secular that characterized premodern society." (Greil and Robbins 1994: 6)
Mit diesen Überlegungen kommt besonders die übergeordnete Theorie der Religionssoziologie, nämlich die Säkularisierungsthese, ins Schwanken. Die Säkularisierungsthese wird in der gegenwärtigen Religionssoziologie in Frage gestellt, die bei fast allen Gründern der Sozialwissenschaften, ohne sie zu bezweifeln, akzeptiert wurde. Sie wurde für die moderne europäische Gesellschaft entwickelt und behauptet, daß die Religion mit dem Modernisierungsprozeß ihre soziale Bedeutung verlieren würde (Wallis and Bruce 1992: 8-9). Die Säkularisierung wurde als die Aneignung von Funktionen durch die säkularen Institutionen, die traditionellerweise zu den kirchlichen Institutionen gehörten, bezeichnet (Casanova 1994: 13). Dabei soll die Rolle der modernen wissenschaftlichen Entwicklungen nicht vergessen werden, die zur Rationalisierung führen und damit den Glauben an die Religion entkräften (Shupe and Bromley 1985: 58, Stark 1985: 144).
Die zentrale These der Säkulariserungstheorie besagt, daß der Prozeß der sozialen Modernisierung ein Prozeß der funktionalen Differenzierung und Emanzipierung von säkularen Sphären der religiösen Sphären ist und die Differenzierung und Spezialisierung der Religion in ihrer neu gefundenen Sphäre sich dazu anschließt. Eine Unterthese geht davon aus, daß der Prozeß der Säkularisierung die progressive Schrumpfung und den Rückgang der Religion mit sich bringen würde, und manche fügen sogar hinzu, daß die Religion schließlich verschwindet. Die andere Unterthese postuliert, daß der Säkularisierungsprozeß eine Privatisierung und eine Marginalisierung der Religion hervorrufen würde (Casanova 1994: 13-20).
Die Privatisierung der Religion tritt stärker auf, weil die Religion auch ihre funktionale Bedeutung verliert, wobei ihre Funktionen von anderen Institutionen übernommen werden (Wilson 1985: 14-15).
"Die Sozialform der Religion, die in modernen Industriegesellschaften entsteht, ist dadurch charakterisiert, daß potentielle Konsumenten einen direkten Zugang zum Sortiment der religiösen Repräsentationen haben. Der Heilige Kosmos wird weder durch einen spezialisierten Bereich religiöser Institutionen noch durch andere öffentliche primäre Institutionen vermittelt. Es ist gerade diese unmittelbare Zugänglichkeit des Heiligen Kosmos oder des Sortiments an religiösen Themen, die die Religion heutzutage zu einer Erscheinung in der "Privatsphäre" macht" (Luckmann 1996: 146).
Der Mangel an Säkularisierungstheorien war nach Casanova jener, daß sie nicht erkennen konnten, daß die Mauer zwischen Kirche und Staat immer Spalten haben kann, die die Penetration beider Seiten ermöglichen, und daß die Religion und die Politik jede Art von symbiotischen Beziehungen entwickeln können. Lediglich in den 1980er Jahren, bedingt durch eine Explosion der Religion in der öffentlichen Sphäre, konnte verstanden werden, daß die Differenzierung und der Verlust der gesellschaftlichen Funktionen nicht unbedingt die Privatisierung der Religion verursachten (Casanova 1994: 19, 41).
Daraus können wir erkennen, daß die alten Paradigmen für die Erklärung der Religion in unserer "neuen Welt" nicht mehr reichen, die alten Kategorien ihre Inhalte verändern, und die religiösen Dichotomien, wie säkular/heilig oder privat/öffentlich, nicht mehr als Dichotomien angenommen werden, sondern als Konzepte, die sich gegenseitig penetrieren.
In den letzten Jahren tritt die Religion in die "öffentliche" Sphäre ein, währenddessen verschiedene "Öffentlichkeiten", wie die Massenmedien, Sozialwissenschaftler, Politiker und die "gesamte Öffentlichkeit", sich plötzlich für die Religion interessieren. Der Grund dieses Interesses ist, daß die Religion das private Feld verläßt und in die öffentliche Arena des moralischen und politischen Kampfes geht. Vier scheinbar nicht miteinander zusammenhängende Entwicklungen sind Gründe dieser globalen Öffentlichkeit: die islamische Revolution im Iran, der Aufstieg der Solidaritätsbewegung in Polen, die Rolle des Katholizismus in der Sandinista Revolution und in anderen politischen Konflikten in Lateinamerika, sowie das öffentliche Wiederauftauchen des protestantischen Fundamentalismus in der amerikanischen Politik. Folglich sind wir Zeugen einer De-Privatisierung der Religion in der modernen Welt. Die religiösen Traditionen in der ganzen Welt akzeptieren ihre marginale und private Rolle nicht mehr, die ihnen die Theorien der Modernität und der Säkularisierung zugeschrieben haben. Soziale Bewegungen tauchen auf, die entweder einen religiösen Charakter haben oder im Namen der Religion die Legitimität und die Autonomie der primären säkularen Sphären, des Staates und der Marktökonomie, in Frage stellen. Das Erscheinungsbild der Religion in den 1980'ern weist uns darauf hin, daß Religionen fortdauern und sich den Aufklärungsträumen des Widerstands entgegensetzend, weiter eine wichtige Rolle bei der Konstruktion der modernen Welt zu spielen scheinen. Wir erleben nicht die Geburt neuer Religionen oder die Rückkehr des Heiligen, wo religiöse Traditionen ausgetrocknet sind, sondern die Revitalisierung und die Reformierung von alten lebenden Traditionen. Die Übernahme von öffentlichen Rollen findet genau in diesen religiösen Traditionen statt, von denen die Säkularisierungstheorie behauptete, daß sie in der modernen Welt privatisierter und irrelevanter werden (Casanova 1994: 6, 225).
Wenn wir über die öffentliche Religion sprechen, müssen wir auch die politische Seite in Betracht ziehen. Wir erleben eine weltweite Politisierung der Religion dadurch, daß die staatliche Relevanz der Religion und die Verschmelzung der Religion und der Ideologie betont werden. Diese Politisierung findet in den Gesellschaften statt, besonders in den islamischen, wo Religion und Herrschaft historisch eng verbunden waren. Eine andere Seite der Politisierung der Religion besteht in der Religionisierung der Politik: Je religiöser der Staat wird, desto mehr engagieren sich religiöse Akteure in der Politik. Außerdem kann die Politisierung von Religion Akteure, die sich bereits in säkularen Bereichen engagieren, dazu bringen, Staatsangelegenheiten religiöser zu interpretieren (Robertson 1989: 10-14).
Alevitum als öffentliche Religion
Die Periode, in der die Aleviten begannen, in die Öffentlichkeit zu treten, läuft parallel zum Aufschwung der islamistischen Bewegung in der Türkei und auch zum Beginn der Auflösung der sozialistischen Länder. Diese beiden Aspekte haben sowohl ihre lokalen als auch globalen Züge. Nach der Auflösung des politischen rechts-links Gegensatzes durch den Militärputsch 1980 traten andere politische Widersprüche auf die Tagesordnung in der Türkei, die die alevitische öffentliche Wiederbelebung beeinflussten und sogar verursachten. Die islamistische Bewegung und die kurdische Bewegung brachten religiöse und ethnische Fragen zur Diskussion, und traten somit an die Stelle der Frage von rechts und links. Daher ist es nicht erstaunlich, daß die überwiegende Mehrheit derer, die an der neuen alevitischen Bewegung führend mitwirken, die alten Linken sind, die entweder nach dem Militärputsch 1980 oder nach den politischen Veränderungen in den sozialistischen Ländern ihre Aktivität in den marxistisch-leninistischen Organisationen aufgaben. Diese Ex-Atheisten oder Ex-Agnostiker sind diejenigen, die heute die alevitische Lehre und das "Heilige" formalisieren und intellektualisieren wollen, obwohl sie damals diese als "Opium fürs Volk" bezeichneten und deren Ausübung verhinderten.
Die islamistische Bewegung in der Türkei entwickelt sich besonders seit dem Militärputsch 1980, einem Wendepunkt, dessen Spuren und Einflüsse im sozialen und politischen Leben der Türkei immer noch sehr stark zu beobachten sind. Die neue Staatspolitik, die vom Militär entwickelt wurde, strebte die De-Politisierung der Gesellschaft an, und zielte dabei besonders darauf, die linken Ideologien zu schwächen und Jugendliche von radikalen Strömungen fernzuhalten. Die Begeisterung über die islamische Revolution im Nachbarland Iran, verbunden mit der neuen Staatspolitik, bereitete einen fruchtbaren Boden für die Entstehung und Entwicklung islamischer Politik. Die neue Regierung, die hauptsächlich aus Militäroffizieren bestand, tolerierte die Islamisten, die die Zahl ihrer Posten im bürokratischen Apparat und den Ministerien erhöhten. Mit der neuen Verfassung von 1982 wurde der Religionsunterricht ab der vierten Klasse bis zum Ende der Oberstufe obligatorisch. Die Zahl der Imam-Hatip-Schulen, die mit dem Ziel der Ausbildung von Personal für die Moscheen gegründet wurden, stiegen nach 1980 eklatant an. Mit einem neuen Gesetz wurden diese Schulen als Gymnasien anerkannt und die Absolventen können seitdem an der Universitätsaufnahmeprüfung teilnehmen.
Die neuen Entwicklungen ab 1980 bedeuten für Aleviten, nicht nur eine "Religionisierung der Politik", sondern auch eine Sunnitisierung der Politik. Zum Beispiel ist der Inhalt des obligatorischen Religionsunterrichts sunnitisch und das Alevitum wird überhaupt nicht behandelt. Desweiteren, und das ist noch wichtiger, hat der Staat begonnen, in den alevitischen Dörfern Moscheen zu bauen und sunnitische Prediger zu diesen Moscheen zu berufen. Ende der 1980er Jahre begann den Aleviten gegenüber eine neue Staatspolitik. Die Veränderung in der Regierungspolitik besteht nicht mehr in Indifferenz, sondern in der Behauptung, daß das Alevitum ein Teil des Islams ist. Es wird immer betont, daß die SunnitInnen und Aleviten Glaubensbrüder sind. So haben Staatsmitglieder begonnen an alevitischen Festen teilzunehmen. Wie Bruinessen darstellt, kann die neue Regierungspolitik die folgenden Ziele haben: Das Interesse an der Kultur und der geistlichen Dimension könnte die alevitische Jugend vom linken Radikalismus fernhalten, die Aleviten könnten als Barriere gegen die Entwicklung der sunnitischen Re-lslamisierung benutzt werden, und die Unterstützung der alevitischen Identität könnte die radikale kurdische Bewegung entkräften (Bruinessen 1992: 32-33).
Zusammen mit der Staatspolitik der Sunnitisierung führte die globale Entwicklung der islamistischen Ideologie zum Aufschwung der islamistischen Bewegung in der Türkei, die vom Staat nicht mehr kontrollierbar war.
Die Islamisierung der sunnitischen Bevölkerung und die Entwicklungen der islamistischen Bewegung wurden bei der alevitischen Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen. Diese Bedrohung realisierte sich: 1993 führten radikale Sunniten einen Anschlag auf ein Hotel in der anatolischen Stadt Sivas aus. Dem Anschlag fielen 37 Menschen zum Opfer, die für ein alevitisches Fest zusammengekommen waren. Dieses Ereignis führte neben der Verstärkung der alevitischen Bewegung auch zu politischen Enttäuschungen. Da dies zu einem Zeitpunkt geschah, als die sozialdemokratische Partei SHP (Sosyal Demokrat Halk<+ Parti - Sozialdemokratische Populistische Partei) in der Koalition mit der rechts-liberalen DYP an der Regierung war, betraf es die Aleviten besonders stark. Die Aleviten bildeten einen wichtigen Teil der Wählerstimmen von sozialdemokratischen Parteien seit der Gründung der Republik. Daher ist es nicht erstaunlich, daß der Prozentsatz an Wählerstimmen der SHP nach diesem Vorfall enorm sank.
In einem alevitischen Vorort von *stanbul, in Gaziosmanpa#a, erlebten die Aleviten eine weitere Enttäuschung, diesmal aber nicht von der Seite der sunnitischen Bevölkerung, sondern durch die Polizei, also dem 'Vertreter des Staates'. Durch Angriffe mit einigen Streufeuern auf Kaffeehäuser, wobei drei Menschen ums Leben kamen - darunter auch ein alevitischer 'Heiliger', entwickelten sich die Ereignisse so, daß die Bevölkerung von Gaziosmanpasa die lokale Polizeistation überfiel. Daraufhin wurden Barrikaden gegen die Polizei in den Straßen errichtet. In Folge einer Konfrontation wurden 23 Menschen von der Polizei erschossen.
Besonders das oben erwähnte "Sivas Ereignis" war ein Wendepunkt für viele Aleviten, die sich nach diesem Zeitpunkt für die alevitische Politik einsetzten. Die Anzahl der alevitischen Vereine und Stiftungen, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, hat sich nach diesem Ereignis rasch vermehrt. Die Politik der alevitischen Öffentlichkeit wird hauptsächlich in Vereinen produziert, und weitergegeben.
"Yet it is formal organizations that must be emphasized if we are to grasp the ways in which public religion is actually perpetuated" (Wuthnow 1994: 152).
Nach Wuthnow wird die öffentliche Religion produziert, und zwar ist sie das Produkt eines komplexen Systems von Organisationen, die das Heilige mit der Gesellschaft zusammenbringen (Wuthnow 1994: 151). Der Prozeß der Formalisierung und der Intellektualisierung des Alevitums findet hauptsächlich in den alevitischen Zeitschriften sowie in Vereinen und Stiftungen statt. Das Zentrum des alevitischen Vereins- und Publikationswesens befindet sich in Großstädten wie *stanbul und Ankara und hat in anatolischen Kleinstädten verzweigt. In Deutschland gibt es mittlerweile fast in jeder Kleinstadt einen alevitischen Verein, der zur "Europäischen Föderation der alevitischen Vereinigung" gehört und deren Zentrum in Köln ist. In den Großstädten, wie in Berlin, gibt es auch andere alevitische Vereine, die sich außerhalb dieser Föderation befinden. Zeitschriften fungieren als eine Plattform, in der die verschiedensten Sichtweisen diskutiert und dargelegt werden. Viele Vereine haben direkte oder indirekte Beziehungen zu diesen Zeitschriften, so daß die Vereine jene Orte sind, wo diese Sichtweisen in die Praxis weitergeleitet und in Politik umgesetzt werden können. In Vereinen treffen sich diejenigen Aleviten, die aus den verschiedensten Dörfern und Städten emigriert sind. Vereine übernehmen die Funktion der religiösen Dorfgemeinschaft, wo der alevitische Ritus ausgeübt werden kann und die Dorfgemeinschaft sich in eine städtische Gemeinschaft verwandelt.
Auf der Suche nach Gemeinschaft
"We live at a time when "the search for community" is a very strong feature of everyday and public life..." (Robertson 1994: 131).
In der gegenwärtigen Situation erlebt die alevitische Gemeinschaft eine Phase der Neuorientierung. Die Authentizität der alevitischen Gemeinschaft ist nicht mehr zu schaffen. Viele Aleviten praktizieren nicht mehr das Cem in ihrem Dorf mit einem Heiligen, dem sie zugeordnet sind, sondern kommen in den alevitischen Vereinen und Vereinigungen ihrer Stadt oder in den in großen Sälen und Sporthallen zu organisierten Festen zusammen. Sie üben ihre Rituale mit Leuten aus, die sie meistens nicht kennen und mit denen sie nicht durch einen bestimmten Orden verbunden sind, was eigentlich den Praktiken des Alevitums widerspricht.
Nach Kehl-Bodrogi müssen neue organisatorische Formen gefunden werden, um die Gemeinschaft zu erleben und neu zu definieren. Das Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Formen ist besonders unter den Aleviten der Städte groß, die die Auswirkungen der allgemeinen gesellschaftlichen Krisensituation am stärksten wahrnehmen. "In einer sozialen und kulturellen Vakuum-Situation schufen sie in Form von Vereinen jene Nischen, in denen alevitische Kultur - wenn auch in modifizierter Form - weiterleben kann und von denen neue Impulse für die Wiederbelebung bzw. Transformation der Gemeinschaft ausgehen. Somit treten die Vereine an die Stelle der traditionellen lokalen und erblichen Bindungen, die als soziopolitische Folge der Stadt-Land-Migration aufgelöst waren" (Kehl-Bodrogi 1992: 27).
Alevitum als Konsumartikel?
In der modernen Gesellschaft determinieren der Konsumzugang und die Konsumorientierung einen großen Teil des Lebens. Wesentlich ist daher die: "Erforschung der Felder sozialer Realität nicht unter der Fragestellung, welche Idee verkörpert eine Person, sondern wie und in welchen Anwendungsfeldern verschlüsselt eine bestimmte Idee die körperliche Erscheinung und das Alltagshandeln eines bestimmten Individuums" (Stauth 1990/91: 168).
Darum sind die Moden unter Aleviten, wie Kleider, Automarken, usw (den Zülfikar - den Namen des Schwerts von Ali - als Kette oder sogar als Tattoo zu tragen ist der bekannteste invention of tradition besonders unter den Jugendlichen), sondern auch Verhaltensstile und Diskurse wichtig. In diesem Zusammenhang gewinnt die Frage an Bedeutung, inwieweit Aleviten bevorzugen, bei alevitischen Händlern (Lebensmittel-, Kleider-, Kassettengeschäfte) einzukaufen, welche Reisebüros sie benutzen (für die Aleviten in der Diaspora, die regelmäßig in die Türkei gehen und diejenigen in der Türkei, die Buslinien benutzen), und in welche alevitischen Cafés, Restaurants oder Kaffeehäuser sie gehen usw. .
Verbunden mit dem Konsumverhalten in den zeitgenössischen Gesellschaften und mit der Pluralisierung der Lebenswelten in bezug auf das Alevitum und den Konsum, spielt die wichtige Frage eine Rolle, ob das Alevitum nach seinem Eintritt in die Öffentlichkeit selbst ein Konsumartikel geworden ist. Alevitum wird gut verkauft: Seit dem Ende der 80er Jahre sind mehr als 150 Bücher über Alevitum erschienen, die Kassetten mit alevitischen Liedern erleben einen Boom, es werden 'Dorf-Cafés' eröffnet, wo hauptsächlich alevitische Lieder gespielt und live gesungen werden. Die Diskussionen und Schriftenreihen über das Alevitum in den Medien haben beinahe einen periodischen Rythmus. Manche Aleviten sind der Meinung, daß im Vergleich der "originalen" Cems mit den jetzigen, diese mehr den Charakter von Vergnügungsveranstaltungen als religiösen Ritualen bekommen haben, welche am Wochenende besucht werden, um Bekannte zu sehen.
Schlußbemerkung
Im Prozeß der Globalisierung gewinnt die Religion an Bedeutung, was auch in der Türkei und in der Diaspora zu beobachten ist. Die Auseinandersetzung mit der re-islamistischen Bewegung in den Zeitungen und Zeitschriften, im Fernsehen und Internet, sogar im Parlament und im obersten Militärrat nimmt häufiger die erste Stelle auf der Tagesordung der Türkei ein. In diesem Zusammenhang gewinnt das Alevitum auch an Bedeutung.
Daß Religion nicht mehr als ein separates soziokulturelles Feld zu betrachten ist und sich einen Platz in jeder gesellschaftlichen Sphäre schafft, spiegelt sich auch in den Diskussionen wieder, die sich mit Fragen der Wurzeln und des Inhalts des Alevitums beschäftigen. In den Veranstaltungen, Zeitschriften und Büchern gibt es immer wieder Diskussionen, wie das Alevitum definiert werden soll: ob es eine Religion oder Kultur ist oder eher als Philosophie oder Ideologie bezeichnet werden soll. Diese deuten auf die neue Rolle der Religion in der Welt, die öffentlich und politisch wird.
Die neue Öffentlichkeit des Alevitums ist in einer Wechselbeziehung mit der Transformation des Alevitums zu sehen. Die Vereine und Stiftungen werden die Orte, in denen die Transformation des Religiösen entsteht, z.B. die Massencems, wo mehrere Tausende zusammenkommen oder die Erschaffung von Räumen für cemevi, und die alevitische Dorfgemeinschaft sich in eine städtische Gemeinschaft verwandelt.
Meines Erachtens werden die Organisationen auch jene Orte sein, die Differenzierungen und De-Differenzierungen unter Aleviten aufzeigen und dadurch die öffentliche und politische Rolle der Aleviten in der Türkei und in der Diaspora bestimmen werden.
Literatur
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[1] Siehe Beyer 1994: 14-44für einige Ansätze über die Globalisierung.
[2]"I treat 'new worlds' implicitly in a phenomenological sense (as new structures of consciousness), as well as in spatial terms (new territories or new spaces for actors to situate themselves in) and in interpersonal terms (new social networks linking populations formerly cut off from each other or invisible to each other)" (Tiryakian 1994: 133).
[3] Siehe Casanova 1994:17 für die Ausnahmen und siehe Casanova 1994: 13-18, 32-33, 44-52 für die Säkulariserungsbeiträge von Durkheim, Weber und Marx.
[4] Eine Auseinandersetzung mit der Diskussion über quasi- oder para-Religionen, die sich auch mit dem Inhalt von heilig/säkular auseinandersetzen, entspringt den Rahmen dieses Papiers. Eine ausführliche Sammlung über dieses Thema kann in der Band "Religion and the Social Order. Between Sacred and Secular: Research and Theory on Quasi-Religion", die von Greil und Robbins herausgegeben wurde, gefunden werden. Siehe Seyla Benhabib 1995: 121-130für die feministische Kritik über den Inhalt der Kategorisierung "privat/öffentlich".
[5] Siehe auch die Ansätze für die Öffentlichkeit der Aleviten >amuro²lu 1997: 25-28.
[6] Der Religionsunterricht wurde 1935 verboten, aber wurde 1949 als wahlfrei wieder eingeführt.
[7] Besonders 1996 konnte das größte alevitische Fest, das jedes Jahr in Haci Bektas stattfindet, nicht als eine Plattform für die neue Regierungspolitik benutzt werden. Der Kulturminister, der zu der islamistischen Refah Partei gehörte, hat an dem Fest teilgenommen, obwohl er unerwünscht war (besonders wegen dem Massaker in Sivas, das von vielen Refah-Mitglidern unterstützt wurde). Die Polizei nahm viele Teilnehmer fest, die gegen den Minister demonstriert hatten.
[8] Siehe Kehl-Bodrogi 1992:27-29 für eine kurze Darstellung verschiedener Vereine, Vorhoff 1995: 83-88 für Verlagshäuser und alevitische Medien und Üzüm 1997: 29-66 für verschiedene Organisationen.
[9] Siehe Ocak 1991a und 1991b und Vorhoff 1995